Endlich "echter" Bürgerdialog mit dem Umweltminister – Viele Widersprüche bleiben jedoch ungeklärt

Zu einer Video-Konferenz mit Umweltminister Jan Philipp Albrecht, Experten und Anwohnern der Deponie Niemark hatten am Donnerstag, 11. März 2021, die Unabhängigen aus Lübeck interessierte Lübecker eingeladen. Dabei sollte es um die geplante Zwangszuweisung von zunächst 11.500 Tonnen freigemessenen Materials aus dem Rückbau des AKW Brunsbüttel zur Deponierung in Lübeck gehen. Auch die Bürgerinitiative "Lübeck ohne Atomschutt" nahm an diesem Onlineaustausch teil und machte auf ihre Standpunkte und Forderungen aufmerksam. Erklärtes Ziel der Veranstaltung war es, Befürwortern wie Gegnern die Chance zu bieten, ihre Argumente darzulegen und darüber in sachlicher Atmosphäre zu diskutieren. Über 60 Teilnehmer verfolgten die über 90-minütige Veranstaltung mit großem Interesse.

Eine Zusammenfassung der Veranstaltung aus Sicht der Bürgerinitiative:

Nach einigen einführenden Worten von Detlev Stolzenberg, sprach zunächst der Strahlenschutzexperte Dr. Werner Neumann. Er erklärte den Teilnehmern das sogenannte Freimessverfahren und zeigte in deutlichen Worten auf, dass es sich hierbei keineswegs um ein reines Messverfahren handelt. Vielmehr beruht das Freimessen auf einem Rechenmodell, welches aus einzelnen Messwerten und einer Vielzahl von Annahmen eine theoretische Jahres-Strahlen-Dosis pro Kopf für verschiedene sogenannte Expositionspfade ermittelt. Er übte Kritik an diesem Rechenmodell, welches nach Ansicht verschiedener Wissenschaftler und Umweltorganisationen mehrere Annahmen nicht konservativ genug ansetzt und einige aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse nicht berücksichtigt. Dr. Neumann ging in seinen Ausführungen davon aus, dass die tatsächliche Strahlendosis durch das freigemessene Material für mehrere Expositionspfade in Wirklichkeit deutlich über dem Wert von 10 Mikrosievert (µSv) liegt. Dabei sei bereits dieser Dosiswert aus seiner Sicht deutlich zu hoch angesetzt und sollte eher bei 5 oder besser 1 µSv liegen, da gerade niedrigschwellige Strahlung das Risiko verschiedener Erkrankungen, u. a. Krebs bei Kindern, erhöht.

Danach hatte Jan Philipp Albrecht, Umweltminister des Landes Schleswig-Holstein, das Wort. Er betonte mehrfach die Verantwortung, welche die gesamte Gesellschaft im Rahmen des Atomausstiegs trage. Der Minister verteidigte die geplante Deponierung des freigemessenen Materials auf der Lübecker Deponie als völlig ungefährlich und verwies dabei einerseits auf andere Strahlungsquellen mit einer deutlich höheren Jahresdosis und anderseits darauf, dass die Deponierung in Einklang mit geltenden Gesetzen stehe. Diese Gesetze seien vor Jahren auf Bundesebene beschlossen worden. Er selbst sei nun zur Umsetzung verpflichtet, ob er wolle oder nicht.

Herr Albrecht versicherte, dass sämtliches Material, welches das AKW-Gelände verlasse, auf Rest-Strahlung vermessen sei – auch auf Alpha- und Beta-Strahlung. Dieser Aussage widersprachen mehrere der anwesenden Experten und gaben an, dass die entsprechenden Messvorrichtungen hierzu gar nicht geeignet seien, sondern nur Gamma-Strahlung erfassen könnten. Dem widersprach der Minister seinerseits, ohne jedoch Belege zu nennen.

Der Umweltminister beteuerte außerdem Freimessung basiere auf nationalen und internationalen Gesetzen, die Sicherheit garantieren und der AKW-Bauschutt sei nicht gefährlich. (Anmerkung der Initiative hierzu: Dass Länder wie die Schweiz, die ebenfalls derzeit AKWs zurückbauen, deutlich niedrigere Grenzwerte haben, blieb leider unerwähnt. Wissenswert wäre in diesem Zusammenhang auch, dass Deutschland in der jüngsten Novelle der Strahlenschutzverordnung von 2018 einige für die Freimessung relevante Grenzwerte, entgegen den Empfehlungen der EU, nicht gesenkt und teilweise sogar erhöht hat.)

Auch die Aussage des Ministers über die Ungefährlichkeit des Materials wollten verschiedene Teilnehmer nicht hinnehmen und verwiesen in ihren Aussagen u. a. auf die sogenannte "Kinderkrebsstudie", welche eine Häufung von Leukämie bei Kindern aus dem Umfeld von Atomkraftwerken ermittelte. Im Chat zitierte ein Teilnehmer außerdem eine Studie der Uni Greifswald, die Mitarbeitern der Deponie Ihlenberg ein um 80 Prozent erhöhtes Krebsrisiko bescheinigte. In Ihlenberg lagern bereits seit vielen Jahren freigemessene Abfälle aus Atomkraftwerken.

Dr. Arne Weigenand, Vertreter der Bürgerinitiative "Lübeck ohne Atomschutt", unterstrich in seinem Beitrag noch einmal die Kritik am Freimessverfahren und den zu hoch angesetzten Freigabewerten. Bei den geplanten 11.500 Tonnen erwartet die Bürgerinitiative deutlich höhere Belastungen als 10µSv pro Person/Jahr. Die den Berechnungen zugrunde gelegte Annahme, die Deponieabdichtung würde über 100 Jahre dicht halten, sei zu optimistisch. Zudem sei es auf der Deponie Niemark bereits in der Vergangenheit zu Austritten von ungefiltertem Sickerwasser in umliegende Gewässer gekommen. Dr. Weigenand forderte den Minister zum Umdenken auf und wies darauf hin, dass es durchaus möglich und nötig sei, Gesetze auf demokratischem Wege zu verändern, wenn deren Grundlage sich als fehlerhaft erwiesen habe. Er bezeichnete das Beharren des Ministers als Zumutung und verwies darauf, dass die geplante Zwangszuweisung keinesfalls alternativlos sei.

Im weiteren Verlauf wurde über Alternativen, wie z. B. den vorübergehenden oder dauerhaften Einschluss des gering radioaktiven Materials in Gebäuden auf dem AKW-Gelände oder dessen Verbringung in oberflächennahe Monolager unter Kontrolle der Atomaufsicht, das sogenannte Französische Modell, diskutiert. Hierbei könnte das Risiko der unkontrollierten Verteilung radioaktiver Teilchen (Alpha- und Betastrahler) über die Luft oder das Sickerwasser im Vergleich zur Lagerung auf einer konventionellen Deponie minimiert werden. Diese beiden Expositionspfade hatte Herr Dr. Neumann zuvor als besonders problematisch geschildert. Herr Albrecht verwies in diesem Zusammenhang erneut auf die Gesetzeslage, welche diese Optionen nicht vorsehe. Ein Teilnehmer warf der Politik daraufhin Versagen vor, weil seit Beschluss des Atomausstiegs genügend Zeit gewesen wäre, risikoärmere Alternativen zu suchen und zu finden.

Herr Dr. Neumann bemängelte ein fehlendes Gesamtkonzept der Landesregierung für den Umgang mit den riesigen Materialmengen aus dem Rückbau mehrerer Atomkraftwerken und des Nuklearschiffes Otto Hahn in den nächsten Jahren. Herr Albrecht versicherte, ein solches Konzept liege vor, gab allerdings zu, dass es bisher keine Transparenz zur anteilsmäßigen Verteilung von Material mit unterschiedlich starker Belastung gibt.

Schließlich wurde die Eignung der Lübecker Deponie thematisiert. Hierbei schaltete sich Manfred Rehberg, Leiter der Sparte Stadtreinigung der Entsorgungsbetriebe Lübeck, in die Diskussion ein und versicherte, dass er seine Mitarbeiter gut auf die Einlagerung vorbereite. Eine Laufzeitverkürzung werde es durch die Deponierung von AKW-Material nicht geben. Man werde die Annahme anderer Abfälle aus dem Umland entsprechend zurückfahren. Auf frühere Probleme mit der Versiegelung der Deponie angesprochen erklärte er, dass dies nur den alten Teil der Deponie betreffe. Der neue Teil, auf den das Material aus der Zwangszuweisung komme würde, sei nach unten durch entsprechende Folien versiegelt. Diese Versiegelung sei auf eine Haltbarkeit von ca. 100 Jahren ausgelegt. Danach könne für die Dichtigkeit allerdings nicht mehr garantiert werden. Der genaue Ort der Einlagerung würde kartographiert, so Rehberg. Eine Rückholung des Materials im Falle von Problemen sei somit zwar rein theoretisch möglich, aber nach seiner Einschätzung praktisch nicht realisierbar.

Herr Dr. Neumann forderte Herrn Albrecht auf, die Expositionspfade für jede der in Betracht kommenden Deponien unter Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten nachrechnen zu lassen. Der Minister meinte, dies sei geschehen. Die Frage, ob die entsprechenden Unterlagen öffentlich einsehbar sind, konnte aus Zeitmangel nicht mehr abschließend geklärt werden.

Insgesamt war die Veranstaltung geeignet, sich über das komplexe und emotional aufgeladene Thema des Verbleibs von freigemessenem Atomschutt zu informieren. Parteipolitisches Geplänkel sowie persönliche Anfeindungen blieben dankenswerter Weise außen vor. Trotzdem wurden aus Sicht der Bürgerinitiative längst nicht alle Aspekte angesprochen. Viele Fragen und Anmerkungen aus dem Publikum blieben unbeantwortet. Die Veranstalter stellten in Aussicht, alle Punkte zu sammeln und im Nachgang an den Minister zu übergeben. Die entsprechenden Antworten sowie eine Aufzeichnung der Veranstaltungen sollen veröffentlicht werden. Außerdem wurde der Wille zu einer Fortsetzung der Diskussion in einem vergleichbaren Rahmen geäußert.